News aus Nordeuropa
Moralapostel auf Abwegen

Grönlands Politik ist schnelllebig und direkt. Was auch immer auf der nordischen Insel passiert, Kenneth Wehr ist informiert und erklärt Zusammenhänge und Hintergründe des politischen Geschehens.
Kenneth Wehr schreibt über die Entwicklung der neuen grönländischen Partei Suleqatigiissitsisut, die gegen Steuergeldverschwendung einsetzen möchte und dann selbst in die Falle tritt. Eine Partei mit tiefer, kultureller Überzeugung, der es allerdings noch an einer ordentlichen Struktur fehlt. Die letzten Vorfälle zusammengefasst.
Von Kenneth Wehr
Ein Küchentisch im Lampenschein am Abend. „Also ist das jetzt unser Gründungsparteitag?“ Auf diese Weise wurde die Gründung der Suleqatigiissitsisut/Samarbejdspartiet im Dokumentarfilm Kampen om Grønland vom Frühjahr 2020 dargestellt.
Tillie Martinussen, Michael Rosing und Jan Joe Seidsen saßen am Tisch. Erstere waren im Herbst 2017 bei den Demokraatit ausgetreten, für die sie zuvor im Inatsisartut, dem grönländischen Parlament, gesessen hatten. Beide konnten sich nicht mehr mit der Politik der Partei identifizieren. Die Demokraatit sind eine besonders bei Dänen beliebte sozialliberale Partei. Tillie und Michael gründeten Anfang 2018 ihre neue Partei, die dem Namen zufolge auf Zusammenarbeit setzt. Die wichtigste Parteilinie ist nämlich das Festhalten an der Rigsfællesskabet, also dem Verbund von Dänemark, Grönland und den Färöern, im öffentlichen Politikdiskurs eher eine Minderheitenmeinung in dem Land, das seit 2009 erweiterte Autonomie genießt. Der dritte Mann am Tisch, Jan Joe Seidsen, hatte Erfahrung als Buchhalter und durfte deswegen die Parteifinanzen übernehmen. Zugleich hatte er auch einen Sitz im Parteivorstand inne.
Tillie Martinussen wird Parteioberhaupt
Die aktuell jüngste Partei Grönlands trat nur wenige Wochen nach der Gründung bei der Parlamentswahl an und erlangte einen Sitz. Obwohl Michael Rosing der Parteivorsitzende war, gelang es Tillie Martinussen, die meisten Parteistimmen zu erhalten und somit den Parlamentssitz einzunehmen. Er durfte die Partei jedoch im Kommunalrat der Kommuneqarfik Sermersooq, der auch Nuuk angehört, vertreten. Später wurde es jedoch still um ihn und Tillie Martinussen als einzige Parlamentsabgeordnete der Partei, rückte mehr und mehr ins Rampenlicht, bis sie plötzlich de facto Parteivorsitzende war. Laut Louis „Looqi“ Sigurdsen, ebenfalls Mitglied des Parteivorstands, hatte sich Michael Rosing im Frühjahr 2019 beurlauben lassen, Tillie den Parteivorsitz für die Zeit seines Urlaubs übergeben und sich politisch mehr und mehr zurückgezogen.
„Wir sollten die grönländische Bezeichnung für Minister, Naalakkersuisoq mit dem Begriff Kiffartuussisoq ersetzen“
Tillie Martinussen
Tillie wuchs in einem Kinderheim auf. Im Parlament setzt sie sich lautstark für die Rechte und den Schutz grönländischer Kinder ein, die traumatisiert sind und hungrig ins Bett gehen müssen. Im Grundsatzprogramm der Partei steht, dass zu viele Steuergelder verschwendet werden, anstatt es der leidenden Bevölkerung zukommen zu lassen. Im Sommer hatte sie vorgeschlagen, die grönländische Bezeichnung für die Minister, Naalakkersuisoq (übersetzt in etwa „der Befehlende, der Anordnende“), mit dem Begriff Kiffartuussisoq („der Anderen Dienende“) zu ersetzen. Schließlich sollen Politiker der Bevölkerung dienen. Tillie vertritt somit eine pragmatische, bürgernahe Politik, die sich für das Wohlergehen der grönländischen Bevölkerung einsetzt, aber am Rednerpult ist sie deswegen auch die Stimme der Moral, die häufig den anderen Parteien übermäßige Steuergeldverschwendung oder Bürgerentfremdung vorwirft. Im Zuge des Steinbeißerskandals um Kim Kielsen hatte die Partei verlauten lassen, dass Politiker sich nicht selbst mit den Ressourcen des Landes bereichern dürfen. Klar, und doch hatte Kim Kielsen das getan. Anfang des Monats ist er deswegen als Parteivorsitzender abgewählt worden.
Parteigelder für Gesichtsbehandlungen und Therapien
Im Herbst 2019 trat Jan Joe Seidsen aus zeitlichen Gründen als Buchhalter der Partei zurück. Aber als man ihn 2020 bat, das Amt erneut zu übernehmen, stellte er fest, dass mit den Finanzen einiges nicht stimmte. Geld und Belege fehlten und letztlich stellte er fest, dass das Geld für Dinge gebraucht worden war, die kaum als Parteipolitikdienend eingeordnet werden können. Supermarkteinkäufe, Gesichtsbehandlungen und Therapien sind einige der Ausgaben, die zusammen umgerechnet rund 40.000 Euro ausmachen, alle bezahlt mit Tillie Martinussens Parteikreditkarte. Weil sie die Ausgaben jedoch verteidigte, verließ Jan Joe Seidsen die Partei.
Im Oktober 2020 erfuhr schließlich auch die Öffentlichkeit davon. Jan Joe Seidsen hatte Michael Rosing auf die finanzielle Situation der Partei aufmerksam gemacht. Er beanspruchte also vor zwei Monaten den Parteivorsitz wieder für sich, denn er sei ja nie offiziell zurückgetreten, aber Tillie lehnte ab, schließlich habe er sich doch aus der Landespolitik zurückgezogen. Der gesamte Parteivorstand stellte sich auf Seiten Tillies. Da die Partei noch nie einen Parteitag abgehalten hatte, hatte sie diesen Parteivorstand eigenhändig zusammengestellt. Kurz darauf drückte ihr eine der beiden Regionsabteilungen der Partei das Misstrauen aus. Dabei handelte es sich um die Mehrheit des Vorstands der Abteilung Sermersooq unter Louis Sigurdsen, der selbst jedoch als Parteivorstandsmitglied weiter zu Tillie hielt. Michael Rosing und die anderen Mitglieder der Regionsabteilung verlangten im November von einem Gericht, dass Tillie Martinussen für die Partei keine Kredite aufnehmen dürfe, während diese juristisch forderte, dass Jan Joe Seidsen die Offenlegung der Parteifinanzen unterlassen solle. Beides wurde vor Gericht abgewiesen, auch weil das Gericht nicht überzeugt war, dass Michael Rosing länger der rechtmäßige Parteivorsitzende sei. Daraufhin zeigten fünf Parteimitglieder der Regionsabteilung den Parteivorstand bei der Polizei an, wobei unklar ist, was genau die Anzeige beinhaltet. Darunter ist auch der Gründungsparteivorsitzende Michael Rosing. Kürzlich wurde bekannt, dass diese Mitglieder nun ausgeschlossen wurden. Dafür bedarf es gemäß der Parteisatzung eines Disziplinarausschusses, der auf einem Parteitag ernannt werden muss. Der erste Parteitag seit der Parteigründung fand gestern statt. Die genannten Fünf durften nicht teilnehmen. Tillie Martinussen wurde offenbar mit 29 zu 0 Stimmen zur Parteivorsitzenden gewählt.
Ungeklärter Steuergelderskandal
Es gibt keine rechtlichen Bestimmungen, die vorgeben, zu welchen Zweck Parteigelder der Parteienfinanzierung aus Steuergeldern genutzt werden dürfen. Das ist richtig, schließlich ist das Sache der Partei und Steuergelder sind nur solange Steuergelder, wie sie in öffentlicher Hand sind. Tillie behauptet, dass sämtliche Ausgaben der Ausübung ihres Mandats dienten, zum Beispiel, weil Schimmelvorkommen im Parlamentsgebäude allergische Reaktionen bei ihr auslösen würden, die medizinischer und kosmetischer Behandlung bedürfen. Das mag richtig sein, auch wenn es bei einigen Ausgaben größter Fantasie bedarf, sie mit politischer Arbeit in Einklang zu bringen. Sämtliche Ausgaben sind auch vom Parteivorstand abgesegnet worden. Es ist unklar, inwiefern die von der Regionsabteilung gestellte Anzeige hier dienlich sein sollte und das Gericht wird Grund gehabt haben, zum Schluss gekommen zu sein, dass Michael Rosing wohl kaum noch als Parteivorsitzender gelten kann, nachdem er anderthalb Jahre nicht hatte von sich hören lassen. Tillie Martinussen mag eine ausgezeichnete Politik für das Wohlergehen der grönländischen Bevölkerung vertreten, aber es ist gerade das, was ihr hier auf die Füße fallen dürfte.
Ungewisse Zukunft
Wer sich im Sitzungssaal und außerhalb gerne als Moralapostel der Landespolitik aufspielt, sollte weißgott doppelt aufpassen, dass er die eigene Messlatte noch erreichen kann. Man droht das erworbene Wählervertrauen zu verlieren, wenn man so unreflektiert mit der Kreditkarte umgeht und sich das vom eigens ernannten Parteivorstand absegnen lässt. Vor allem, wenn man seine Kritiker dann aus der Partei wirft, sodass selbst die sonst so zurückhaltende Presse von stalinistischen Methoden spricht, und sich dann einstimmig wiederwählen lässt. Es ist gut möglich, dass Anfang 2021 ein neues Parlament gewählt werden wird, nachdem Regierungschef Kim Kielsen das Vertrauen seiner Parteibasis verloren hat. Im schlimmsten Fall wird es der Partei der Zusammenarbeit nach einem parteiinternen Machtkrieg nicht nur an Geld für den Wahlkampf, sondern letztlich auch an Stimmen mangeln.